Dienstag, 3. Juni 2014

Ein Brief an einen Freund.

Liebe Lesenden,

heute war ein besonderer Tag, über den ich euch gerne in Form eines Briefes an meinen liebsten Schüler Ankush berichten würde:

Lieber Ankush,

als ich heute morgen wie gewohnt ins kleine Community Center eintraf, hätte ich nie gedacht, dass es noch so ein bedeutender Tag werden würde - für uns beide.
Ich hatte mich zunächst gefragt, was all der Aufruhr im Klassenraum zu bedeuten hatte: alle Eltern waren gekommen und redeten wild auf Kema Shugla ein. Als sie mir erzählte, dass ihr Schüler nun die Möglichkeit bekommen habt, durch ein unterschriebendes Dokument auf eine staatliche Schule gehen zu können, begann ich zu verstehen. Um das ganze Wirrwarr nicht noch komplizierter zu machen, setzte ich mich in die Ecke und versuchte dem hippeligen Nittin ein paar Rechenaufgaben zu geben. Dies war wie immer eine sehr schwierige Aufgabe, aber du weißt ja selber, wie er so ist…
Als deine Mutter mit ihrem Daumenabdruck das so wichtige Dokumente unterzeichnet hatte, habe ich mich sehr für dich gefreut. Daher war ich umso überraschter, als du dann mit dem Dokument auf mich zu kamst und meintest, ich solle dich unbedingt auf dem Weg zu deiner neuen Schule begleiten; wie könnte ich da nein sagen.

Zugegeben, ich hatte keine Ahnung was mich dort erwarten würde. Der Weg führte immer weiter ins Stadtviertel, so tief war ich bisher noch nie in Sangnam Vihar gewesen: die Armut und das Elend waren sehr erschreckend für mich. Dir zuliebe musste ich versuchen mir nichts anmerken zu lassen und weiter zu lächeln; du warst doch so glücklich.
Als wir endlich das große, graue Betongebäude deiner neuen Schule sehen konnten, war ich endlich etwas erleichtert und redete mir ein, dass nun alles gut verlaufen würde. Während du glücklich mit den anderen Kindern auf dem Schulhof getobt hast, führte mich deine Mutter in das Büro, in dem schon viele andere Mütter wild mit ihren Dokument am wedeln waren. Ich wusste nicht warum ich mitkommen sollte, beobachtete also alles erstmal in aller Ruhe.
Es war ein pures Chaos: Mütter, die wild durcheinander schrieen, Schüler, die durch die Klassenräume tobten, ein Bettler, der sich wohl einen schlechten Zeitpunkt zum Betteln ausgesucht hatte und die Lehrer, denen der ganze Trubel so ziemlich egal war. Sie spielten auf ihrem Handy irgendwelche Spiele und schienen einfach nicht ganz verstanden zu haben, wie ernst die Situationen für dich, deine Mutter und all die anderen Schüler und Eltern gewesen war. Ich wurde sehr wütend, was ich mir versuchte nicht anmerken zu lassen. Am liebsten hätte ich dich bei der Hand genommen und dich von dieser Schule weggeführt, das sag ich dir! Aber dann kamen ja zwei Lehrer an den Schreibtisch, die sich wirklich um die Mütter zu kümmern schienen. Sie nahmen die Dokumente entgegen, drückten hier und da einen Stempel auf und sagten den Schülern, wo ihre neuen Klassen sind.
Dann war deine Mutter an der Reihe. Ich freute mich schon, ihr dabei zuzusehen, wie der Lehrer dein Dokument stempelt und dir deine neue Klasse zeigt, als sie mir das Dokument in die Hand drückte und meint, ich solle mal machen. Komplett überfordert und unwissend, was dies zu bedeutend hatte, stand ich dann vor dem Lehrerpult, deine Mutter im Sicherheitsabstand von 2m 45. Der Lehrer betrachtete mich von oben bis unten. Dann lächelte er, stand auf, gab mir die Hand und fauchte den Chay-Walla an, er solle mir doch eine Tasse Tee bringen. Mir war das mehr als nur unangenehm. Er tat so, als wäre ich der König von England, auf exquisitem Besuch in seiner bescheidenen Schule. Ich versuchte zu lächeln, wollte aber eigentlich nur im Boden versinken. Wieder einmal hatte ich vergessen, dass ich hier ja meistens als "weißer" wahrgenommen werde. Siehst du mich eigentlich auch so Ankush? Oder bin ich für dich einfach ein Freund, so wie du für mich?
Naja, jedenfalls schaute er sich dann das Dokument an und war gerade dabei es abzustempeln als ihm etwas auffiel: Irgendwie schienen die Daten in dem Dokument und deiner Geburtsurkunde nicht übereinzustimmen. Jedenfalls glaube ich das, du weißt ja, mein Hindi ist nicht das beste… Er holte deine Mutter ran und schrie sie an, dass das alles nicht gehen würde und du nicht auf die Schule gehen könntest.
Als ich mich ratlos umdrehte, sah ich dich im Türrahmen stehen, als ob du gemerkt hättest, dass  irgendwas nicht stimmte. Dennoch schienst du nicht wirklich zu wissen was da vor sich ging und versuchtest zu lächeln. Als deine Mutter den Tränen nahe war, versuchte ich die ganze Situation irgendwie zu retten und holte dich her, in der Hoffnung, dass dies irgendwas ändern würde. Ich wusste einfach nicht wirklich was das Problem war, also versuchte ich den Lehrer zu beruhigen, sagt ihm, dass du immer ein sehr guter Schüler warst, ich dich immer gerne unterrichtet habe und du eine Bereicherung für jede Klasse wärst. Bild dir da jetzt aber bloß nichts drauf ein, kleiner! ;) Fleißig musst du schon weiterhin sein. Aber es schien wohl zu funktionieren: mürrisch stempelte er dein Dokument ab, überreichte es dir und sagte dir, dass deine neue Klasse im Klassenraum 3d gerade Unterricht habe. Nie werde ich vergessen, wie du mich an die Hand nahmst und wir zusammen mit deiner nun strahlenden Mutter und hunderten von Schulkindern, die uns auf Schritt und Tritt folgten, den Klassenraum 3d suchten. Als ich neben dem Türrahmen stehen blieb und du vor deinem großen, neuen Klassenraum standest, schien die Zeit irgendwie stehen geblieben zu sein. Noch nie zuvor hatte ich jemand so sprachlos erlebt. Deine Augen leuchteten und deine Kinnlade hing dir soweit runter, dass man da mindestens 4 Chapatis gleichzeitig hätte reinstecken können.
Ich habe mich so sehr für dich gefreut. Dein fröhliches Gesicht werde ich sicherlich mein Leben lang nicht vergessen. Vielen dank übrigens für die Einladung zu Tee und Wasser in eurem Haus. Schon immer einmal wollte ich sehen, wie du so lebst. Dein Düsenjet, mit dem wir gespielt haben ist zurecht dein Lieblingsspielzeug. Aber frag mich nie wieder, ob ich ihn nicht doch haben will! Das ist dein Spielzeug und ich bin doch eh schon zu alt für sowas…

Ja mein lieber Ankush, dieser Tag war für mich wohl sicherlich noch spannender, als dass er es für dich war. Dennoch werde ich ihn sicherlich nie in meinem Leben vergessen. Natürlich bin ich nun etwas traurig, dass ich dich nicht mehr unterrichten kann und das Community Center schließen wird, weil die meisten Schüler nun auf die staatliche Schule gehen werden; dennoch freue ich mich wahnsinnig für dich. Nun hast du endlich die Möglichkeit einen richtigen Schulabschluss zu schaffen. Verliere niemals den Mut oder deine optimistische Lebenseinstellung! Nur so wirst du eines Tages sicherlich einmal deinen Traumberuf ausüben können: Lehrer werden.

Eine ganz dicke Umarmung,

dein Freund Johnny-Bahja.